In Berlin läuft die Berlinale! Damit ihr wisst, was abseits von Mediatheken sehenswert ist, setzen wir uns 10 Tage lang ins Kino und beschreiben hier kurz unsere Filmauswahl.
Der Abspann läuft in vollkommener Stille über die Leinwand – keine Musik. Kaum jemand spricht. Die Zuschauer verlassen langsam, beinah schleichend den Kinosaal. Viele bleiben sitzen – möchten die Dunkelheit des Raumes nicht schon aufgeben.
Der Film, der um neun Uhr morgens beim Pressescreening der Berlinale gezeigt wurde, hat sichtlich Spuren bei den Schauenden hinterlassen. Schon sein Titel lässt erahnen warum: Utøya 22. Juli.
Worum geht es?
Den meisten sollte der 22. Juli 2011 noch im Gedächtnis weilen, zumindest wenn sie den Namen der norwegischen Insel hören, auf der vor sieben Jahren ein grauenhaftes Attentat 69 – überwiegend sehr jungen – Menschen das Leben kostete. Utøya – was bis dahin nur eine Insel im Besitz der Jugendorganisation der norwegischen Arbeiterpartei war, auf der alljährlich ein Sommercamp abgehalten wurde – ist seit diesem Tag ein Inbegriff für nationalsozialistischen Terror und Angst.
Nun sorgt der norwegische Regisseur Erik Poppe mit seiner Verfilmung für großes Aufsehen. In Echtzeit (das Attentat dauerte 72 Minuten) lässt Poppe den Zuschauer Teil des Ganzen werden – etwas, was sich niemand auch nur vorstellen hätte wollen.
Zu Beginn des Film sind dokumentarische Aufnahmen der Explosionen die kurz vorher rund um die Regierungsgebäude in Oslo hochgingen. Auch sie waren Teil des Anschlags, verübt von einem einzigen Menschen – dem Rechtsextremisten Anders Behring Breivik. Doch um ihn soll es in dem Film nicht gehen – darüber sind sich Poppe und sein Team einig. Man sieht ihn im Film nur einmal als schemenhafte Silhouette in der Ferne.
Es soll die Geschichte der Opfer erzählt werden – denn dazu hat das Attentat all jene gemacht, die an diesem Tag auf Utøya waren. Mit Hilfe einiger von ihnen und Angehörigen der Verstorbenen ist dieser Film entstanden. Die Hauptperson Kaja (Andrea Berntzen – das Highlight der Berlinale 2018) ist fiktiv, sowie auch alle anderen Charaktere. Sie sind nur dem nachempfunden, was den Filmemachern erzählt wurde. Es sei nicht darum gegangen, ein Schicksal gegenüber anderen als wichtiger darzustellen.
Zu Beginn telefoniert Kaja mit ihrer Mutter, erfährt von ihr über die Explosionen in Oslo. Daraufhin diskutieren sie und andere Jugendliche über die möglichen Ursachen – das Wort Terrorismus fällt – doch keiner kann es sich recht vorstellen. Gewitzelt wird noch darüber, dass man auf einer Insel wie Utøya sicher sei. Doch mitten im Gespräch durchdringt ein Knallen den Wald. Junge Leute beginnen zu rennen, verstecken sich. Auch Kaja und ihre Freunde suchen Schutz zwischen den Bäumen. Nach wie vor weiß niemand was los ist – Versuche die Polizei zu erreichen, scheitern zunächst.
Utøya 22. Juli – Wahrhaftigkeit die schockiert
Obwohl der Zuschauer über die Geschehnisse auf der norwegischen Insel weiß, bangt und hofft er mit den Jungen und Mädchen. Es ist anders als in normalen Spielfilmen, denn hier erlebt man alles in Echtzeit und einem Take. Das macht diesen Film unglaublich grausam – aber auch zu einem der besten auf der diesjährigen Berlinale.
Es sind reale Gefühle, die Utøya 22. Juli hervorrufen – kein ‚auf-die-Tränendrüsen-Gedrücke‘, kein schnulziges Überzeichnen – und trotzdem fließen die Tränen. Man empfindet Schmerz – denn es sterben Menschen, die gerade noch am Leben waren und die Angst hatten. Angst, das ist auch eine der Emotionen die der Film aufs Realste hervorruft. Denn nicht nur Kaja fährt es durch Mark und Bein (hier gewinnt der Ausspruch an Wahrheit) wenn die Schüsse, die gerade noch weit weg schienen, plötzlich ganz nah sind. Man vergisst tatsächlich, dass es „nur ein Film“ ist. Zumindest für den Zuschauer im Jahr 2018.
Darf man das?
Der Gedanke daran, dass der Film nur entstanden ist, weil all das 2011 für über fünfhundert Jugendliche grausame Realität geworden ist, macht einen fertig. Kein Wunder, dass es viel Kritik gibt.
Ob es Recht ist, so etwas in einen Film zu verpacken, ist schwer zu beantworten. Dazu sagt der Regisseur Erik Poppe: „When we wait until everyone think it’s okay to tell that story, then it’s too late.“ Denn der Film erzählt nicht nur eine schreckliche Geschichte – Utøya 22. Juli macht auch sehr intensiv auf rechtsextreme Gewalt aufmerksam. Dass er es auf so schockierende Weise tun muss, zeigt nur, wie wichtig dieses Anliegen ist.
Wer sich mit den Geschehnissen und Erzählungen der Opfer und Hinterbliebenen auseinandersetzen möchte, dem empfehlen wir Die Tage danach: Erzählungen aus Utøya zu lesen.
Bild: © Agnete Brun